Ein Markt am Kipppunkt – Die stille Konsolidierung der deutschen Versicherer
Die deutsche Versicherungswirtschaft steht vor einem Strukturwandel, wie ihn die Branche seit Jahrzehnten nicht erlebt hat. Noch immer sind im Schaden- und Unfallsegment mehr als zweihundert Gesellschaften zugelassen, eine Zahl, die aus der Zeit stammt, als regionale Verwurzelung, rechtliche Fragmentierung und stabile Zinsmargen das Überleben auch kleiner Plattformen ermöglichten. Doch diese historische Vielfalt gerät unter Druck. Steigende Rückversicherungskosten, volatile Kapitalmärkte, die Digitalisierung der Schadenprozesse und eine Kundschaft, die ihre Anbieter mit wenigen Klicks vergleichen kann, nehmen den Kleinen und Mittleren jene Puffer, die sie einst schützten.
Gleichzeitig setzen sich die grossen Häuser zunehmend ab. Allianz, AXA, Generali und ERGO spielen in einer eigenen Liga, getragen von globalen Geschäftsmodellen, diversifizierten Ertragsquellen und einem Kapitalzugang, den kleinere Wettbewerber kaum zu imitieren vermögen. Die jüngsten Halbjahreszahlen untermauern diese Trennung: Allianz meldet einen Rekordgewinn und eine kombinierte Schaden-Kosten-Quote, die deutlich unter dem Branchenschnitt liegt. AXA und Generali weisen hohe zweistellige Eigenkapitalrenditen aus, gestützt von einer Kapitalausstattung, die nicht nur regulatorische Mindestwerte erfüllt, sondern strategische Flexibilität schafft. ERGO profitiert von der Konzernanbindung an Munich Re und nutzt gezielte Akquisitionen, um technologische und datengetriebene Fähigkeiten auszubauen.
Das Mittelfeld indes kämpft mit strukturellen Nachteilen. Tarifänderungen brauchen oft mehr als ein Jahr, bis sie voll wirksam werden. Alte IT-Kerne treiben die Verwaltungskosten pro Police in Höhen, die im Preiswettbewerb kaum darstellbar sind. Vertriebssysteme sind träge, in manchen Fällen zu abhängig von ausschliesslichen Kanälen, deren Produktivität sinkt. Während die Grossen durch Datenvorsprung und Marktmacht Preis, Produkt und Schadensteuerung fast in Echtzeit justieren, bleibt den kleineren Häusern oft nur reaktives Handeln.
Dieser Auseinanderdrift ist kein deutsches Unikum. In Frankreich verdichtete sich der Markt in den vergangenen 15 Jahren spürbar, als Covéa und Groupama ihre regionalen Gesellschaften in zentral geführte Einheiten überführten. In Grossbritannien führten steigende Solvenzanforderungen und die Kosten moderner Kernsysteme zu einer Welle von Fusionen und Run-off-Transaktionen im Non-Life-Segment. Und in den Niederlanden schrumpfte die Zahl der eigenständigen Kompositversicherer seit den frühen 2000ern auf einen Bruchteil – mit der Folge, dass heute nur noch eine Handvoll grosser Gruppen den Markt dominiert.
Deutschland steht vor einem ähnlichen Pfad, wenn auch mit eigener Geschwindigkeit. Die jüngsten Zusammenschlüsse – Gothaer mit Barmenia, die Gleichordnung von SDK und Stuttgarter, die laufende Prüfung einer Mehrheitsübernahme der Nürnberger durch Vienna Insurance Group – sind Vorboten einer Phase selektiver Konsolidierung. Anders als in radikalen Bereinigungsphasen im Ausland dürften hierzulande nicht primär Massenfusionen, sondern gezielte Zusammenschlüsse entlang gemeinsamer IT- und Kapitallogik das Bild prägen. Entscheidend wird sein, ob diese Allianzen mehr sind als organisatorische Arrangements. Nur wenn sie Synergien in Form gesenkter Verwaltungskosten, beschleunigter Produktzyklen und höherer Automatisierungsquoten liefern, werden sie im Wettbewerb mit den führenden Konzernen bestehen können.
Wege durch die Spreizung – Strategische Optionen für Versicherer
Wer sich in diesem sich spreizenden Markt behaupten will, muss vor allem die eigene Positionierung klarer fassen, als es in der Vergangenheit üblich war. Lange liess sich ein breites Portfolio quer durch Sparten und Kundengruppen halten, gestützt von regionaler Präsenz und der Beharrlichkeit eines treuen Kundenstamms. Diese Ära geht zu Ende. Heute gilt es, bewusst zu entscheiden, ob man auf Skalierung oder auf Spezialisierung setzt – und den jeweils anderen Weg konsequent aufgibt.
Skalierung erfordert Kapital, Daten und die Bereitschaft, Technologie als zentrales Betriebssystem zu begreifen. Das bedeutet nicht nur, alte Kernsysteme zu modernisieren, sondern die gesamte Wertschöpfungskette in Echtzeit steuern zu können: vom Pricing über das Underwriting bis zur Schadenabwicklung. Die grossen Häuser demonstrieren, dass sich mit einer solchen Infrastruktur Margen halten oder sogar ausbauen lassen, selbst wenn Inflation, Rückversicherungskosten und Klimarisiken den Druck erhöhen. Wer diesen Weg gehen will, muss frühzeitig Partner finden – sei es über Fusionen, strategische Allianzen oder die Nutzung gemeinsamer Plattformen –, um die notwendige Investitionskraft zu bündeln.
Spezialisierung hingegen heisst, sich bewusst aus dem breiten Wettbewerb zurückzuziehen und dort Exzellenz aufzubauen, wo Preisgestaltung und Risikoprüfung echte Differenzierung erlauben. Das kann die tiefe Verwurzelung in einem bestimmten Gewerbe sein, die Fokussierung auf wohlhabende Privatkunden mit komplexem Absicherungsbedarf oder die Dominanz in einem technischen Spezialsegment. In diesen Nischen sind weder Markentreue noch Kundenloyalität allein Garant für den Erfolg; ausschlaggebend sind die Geschwindigkeit, mit der neue Risiken erfasst und kalkuliert werden, und die Präzision, mit der Produkte und Dienstleistungen auf eine eng definierte Zielgruppe zugeschnitten sind.
Zwischen diesen beiden Polen wird der Raum enger. Mittelgrosse Universalversicherer, die weder kritische Masse noch klaren Fokus haben, werden in den kommenden Jahren unter wachsenden Margen- und Kostendruck geraten. Sie werden gezwungen sein, ihre Verwaltungskosten pro Vertrag zu senken, die Produktzyklen zu verkürzen und gleichzeitig ihre Vertriebskanäle profitabler zu steuern. Ohne strukturelle Veränderung droht ihnen das Schicksal vieler vergleichbarer Gesellschaften im Ausland: eine stille Abwicklung einzelner Sparten, der Verkauf ganzer Bestände oder das Aufgehen in grösseren Einheiten.
Ein besonderes Augenmerk verdient die Kapitalsteuerung. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass Kapitalpuffer nicht nur regulatorische Pflicht sind, sondern strategische Währung. Sie erlauben es, in Krisen preislich flexibel zu reagieren, Opportunitäten bei der Übernahme von Beständen zu nutzen und Investitionen in Technologie durchzuhalten. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen: Wer Kapital diszipliniert auf rentable Segmente lenkt und unrentable Risiken konsequent reduziert, verschafft sich Luft – wer dies versäumt, verliert im Wettbewerb um Preis und Produktivität.
Das Bild, das sich daraus für den deutschen Markt ergibt, ist eines, das wir aus anderen europäischen Ländern kennen: eine Handvoll dominanter Universalversicherer mit globaler Anbindung, flankiert von einer überschaubaren Zahl hochspezialisierter Anbieter. Dazwischen bleibt wenig Raum. Die Übergangsphase wird Jahre dauern, doch der Trend ist unumkehrbar. Die strategische Aufgabe für die Führungsetagen liegt darin, diesen Wandel nicht nur zu begleiten, sondern ihn zu gestalten – bevor andere die eigene Rolle im Markt definieren.