Vom KI Use Case-Denken zu KI als firmenweite Fähigkeit
In meinen Gesprächen mit Managern zum Thema Künstliche Intelligenz (KI) stelle ich regelmässig fest, dass viele mittelgrosse Firmen offenbar Schwierigkeiten damit haben, über das reine KI-Use Case Denken hinauszugelangen. Bei näherer Betrachtung ergibt sich oft folgendes Bild:
Grundsätzlich ist an diesem Vorgehen nichts falsch. In der Theorie entsteht nach und nach ein Portfolio an KI-Use Cases, und die Firma erlernt kollektiv den Umgang mit KI. Eigentlich wäre doch damit alles auf dem richtigen Wege, oder etwa nicht?
Das Problem mit diesem Ansatz ist: Die Erfahrung zeigt, das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Bezogen auf KI heisst das, KI als firmenweite Fähigkeit (Neudeutsch: als Capability) zu etablieren benötigt mehr als ein Portfolio an KI-Use Cases. Viele Use Cases durchgeführt zu haben heisst noch nicht, dass das Unternehmen tatsächlich kollektiv gelernt hat, was man mit KI alles tun kann, oder was die Anwendung von KI an Nebeneffekten alles mit sich bringt.
Schaut man sich die Use Cases näher an, so stellt man nicht selten fest, dass diese häufig an der Peripherie gewählt und geplant wurden. Will heissen, am bestehenden Geschäftsmodell soll erstmal festgehalten und die bestehenden Kernprozesse sollen erstmal nicht verändert werden. Das macht ja auch Sinn. Gleich eine ganze KI-Breitseite zu verschiessen, das ist zu Beginn der Reise oft eher kontraproduktiv. Am Anfang wird also selten direkt eine geschäftskritische Revolution, sondern eher inkrementelle Verbesserungen von unterstützenden Prozessen angestrebt. Diese Verbesserungen brauchen keineswegs finanziell unbedeutend zu sein. Allerdings, mit inkrementellen Verbesserungen von Unterstützungsprozessen lassen sich nur selten wettbewerbsentscheidende Vorteile erzielen. Was fehlt ist eine Vorstellung davon, wie von einem Portfolio an angehäuften KI-Use Cases zu einer firmenweiten Fähigkeit übergegangen werden soll. (Später stellt sich dann die nächste Aufgabe, nämlich wie von einer firmenweiten Fähigkeit zu einem wettbewerbsentscheidenden Vorteil übergegangen werden kann, aber davon handelt dieser Beitrag nicht.)
Was häufig in mittelgrossen Firmen fehlt ist eine Vorstellung davon, wie von einem Portfolio an KI Use Cases zu einer firmenweiten Fähigkeit übergegangen werden soll.
In Ermangelung einer Vision und einer strategisch systematischen Vorgehensweise kommen dann sehr viele Firmen auf genau die gleichen Ideen. Häufig wird beispielsweise eine grössere Produktpalette für alle Mitarbeiter eingeführt, wie OpenAI ChatGPT oder Microsoft Office 365, welches ebenfalls einen KI-Chatbot enthält. Das vage Versprechen ist, dass damit Mitarbeiter durch den Einsatz von KI produktiver würden. Das mag sogar sein, aber da alle Marktteilnehmer auf die gleiche Idee setzen muss bezweifelt werden, ob daraus langfristig strategische Wettbewerbsvorteile entstehen. Es mangelt offenbar schlicht an Vorstellungsvermögen, wie mittels KI das eigene Geschäft langfristig nachhaltig zu transformieren sei. Ein KI-Chatbot ist jedenfalls noch keine firmenweite KI-Fähigkeit.
Damit ergibt sich eine interessante, herausfordernde Situation. Einerseits hat KI angeblich das Potential, an ganz vielen Orten im Unternehmen Prozesse effizienter zu gestalten, oder sogar ganze Geschäftsmodelle auf den Kopf zu stellen. Ein befreundeter Jurist mit Spezialgebiet KI sagte kürzlich zu mir: «Wenn jemand fragt, wo überall man im Unternehmen KI einsetzen kann, dann ist das ungefähr, wie darüber nachzudenken, wo man überall Strom oder Software einsetzen kann.» Damit ist die Sache meines Erachtens gut auf den Punkt gebracht: KI – oder genauer: datengetriebene Entscheidungen – können eigentlich fast überall im Unternehmen eingesetzt werden. Entschieden werden muss immer, und Daten sind (hoffentlich) meist vorhanden. KI basiert auf der intelligenten Verknüpfung beider Faktoren.
Andererseits aber scheint es ziemlich schwierig zu sein, eine Vision und einen konkreten Umsetzungsplan zu entwerfen, der über das Anhäufen von KI-Use Cases oder über symbolische Akte wie die Einführung von generischen KI-Chatbots hinausgeht. Was fehlt ist eine Art «Brücke» zwischen Absicht und Umsetzung. Diese Brücke adressiert notwendigerweise viele verschiedene weiche und harte Aspekte im Unternehmen. Beispielsweise klärt sie die KI-Strategie, verbindet diese mit Innovationskultur, und weiss, wie beide mit konkreten Cloud- und Datenintegrations-Technologien umzusetzen sind.
Liebend gerne würde ich an dieser Stelle eine einfache, rezeptartige Vorgehensweise predigen im Stil von «Fünf Schritte der KI-Einführung im Unternehmen». Ganz so einfach ist die Angelegenheit meiner Erfahrung nach jedoch leider nicht. Trotzdem ist man als Manager auch nicht ganz machtlos. Eine sinnvolle Reaktion auf diese Herausforderung könnte beispielsweise darin bestehen, für das eigene Unternehmen ein systematisches KI Maturitäts- und Ambitionsassessment durchzuführen. Normalerweise besteht ein solches Assessment aus Fragebögen, die verschiedene Dimensionen eines Unternehmens systematisch durchleuchten. Die Fragebögen werden vom Senior Management und verschiedenen Experten im Unternehmen in Zusammenarbeit ausgefüllt und diskutiert. Es handelt sich also um einen sozialen, konstruktiven Prozess von geteilter Erkenntnisgewinnung. Danach werden die Antworten nach vorgegebenen Kriterien ausgewertet, und ein Profil des Ist-Zustandes wird entworfen. Dieses wird abgeglichen mit Erfahrungswerten aus anderen Firmen und Industrien, und so kann für verschiedene Dimensionen des Assessments ein eigener Maturitätsgrad ermittelt werden. Meist macht es auch Sinn, dabei die eigenen Ambitionen in Bezug auf KI-Einführung ebenfalls kritisch zu durchleuchten. Schliesslich lassen sich gemeinsam Verbesserungsmöglichkeiten identifizieren und konkrete Massnahmen ableiten. Das Assessment kann zu einem späteren Zeitpunkt, z.B. ein bis zwei Jahre später, wiederholt werden.
Es gibt einige gute, frei verfügbare Assessment-Frameworks zur Selbstanwendung. Mein Favorit ist der MITRE AI Maturity Model and Organizational Assessment Tool Guide. Ein Nachteil des Guides ist, dass er nicht direkt operationalisierbar ist, das heisst, er muss erst in konkrete Kriterien übersetzt werden.
Für alle, die ein solches Assessment lieber als Dienstleistung beziehen möchten, biete ich dies neu in Zusammenarbeit mit meinen Kollegen und Kolleginnen von AI Bridge an. Bei Interesse freue ich mich über eine Nachricht.
Mehr erfahren: https://fabko.ch