Disruptive Innovation entsteht nicht ohne Hierarchie

Disruptive Innovation entsteht nicht ohne Hierarchie

Im gängigen New-Work-Diskurs wird die Notwendigkeit flacher Hierarchien bzw. der Auflösung selbiger häufig mit der Innovationsfähigkeit von Organisationen begründet. Innovation und Hierarchie werden als nahezu diametral entgegensetze Pole verstanden: Hierarchie verhindere Innovation, da sie den Handlungsspielraum einschränke und die Freiheit zum Ausprobieren nehme. Ein Großteil der populären Management-Literatur fordert daher besonders mit Verweis auf die VUCA-Welt, dass Organisationen Hierarchien abbauen müssten, um sich schnell auf neue Anforderungen einzustellen, und zieht eine gleichsam kausale Linie von Selbstorganisation zu Innovation.

Tatsächlich lässt sich stichhaltig dafür argumentieren, dass ein hoher Entscheidungsspielraum der direkt im wertschöpfenden Geschäft tätigen Akteure die Einstellung auf Umweltveränderungen vereinfachen – schließlich schlagen sie in der Regel dort auf, und bis sie in der Kommunikationskaskade bis zu den Entscheidern vorgedrungen sind, vergeht wertvolle Zeit. Auch wenn die Annahme, dass Top-Manager nur mittelbar von Umweltveränderungen in Kenntnis kommen, nicht zutrifft (Henry Mintzberg hat im Gegenteil gezeigt, dass gerade in den oberen Führungsebenen Außenkontakt ein wesentlicher Teil der Arbeit ist), ist es kaum bestreitbar, dass Entscheidungskompetenz auf Arbeitsebene die Einführung von Neuerungen beschleunigt.

Hier muss jedoch zwischen optimierenden und disruptiven Veränderungen unterschieden werden, oder in Peter Kruses Worten: Veränderungen erster und zweiter Ordnung. Während das oben Beschriebene auf Veränderungen erster Ordnung – etwa die Optimierung von Prozessen, Einsatz neuer Tools oder Verbesserung bestehender Produkte – sicher zutrifft, muss es für Veränderungen, die eine völlige Neuordnung erfordern, bezweifelt werden. Lässt man Mitarbeitende in Organisation frei gewähren und überträgt die maximale Entscheidungsgewalt (inklusive der nötigen Ressourcen) auf sie, werden Produkte und Arbeitsweisen nach einiger Zeit nahezu perfekt an die Erfordernisse angepasst und für die täglichen Anforderungen optimiert sein. Nur: Etwas völlig Neues, das einen radikalen Bruch mit dem Bestehenden voraussetzt, wird vermutlich nicht herauskommen.

Dass kann den Mitarbeitenden keinesfalls zum Vorwurf gemacht werden, schließlich wäre es für sie völlig irrational, eine solche Veränderung anzustoßen. Sie haben in der Regel über Jahre Kompetenzen erworben und verfeinert, die für ihre aktuelle Tätigkeit relevant sind. Diese Tätigkeit zur Disposition zu stellen, wäre sozioökonomisches Harakiri. Deshalb sind disruptive Veränderungen, etwa die Wende hin zur E-Mobilität, selten die Vorhaben, die in der Belegschaft auf ungeteilte Gegenliebe stoßen. In populären Management-Ansätzen wird den Mitarbeitenden dann häufig ein falsches Mindset oder fehlendes unternehmerisches Denken unterstellt. Diese Interpretation geht aber an den organisationalen Verhältnissen vorbei: Es ist schlicht nicht Teil der Rolle der einzelnen Mitarbeiterin (die nicht gerade in der Strategie- oder Innovationsabteilung arbeitet), entgegen der individuellen Interessen das Wohl des Gesamtunternehmens im Blick zu haben. Genau dies ist die ureigene Funktion der Hierarchie.

Neben den individuellen Interessen der Akteure gibt es auch ein organisationales Hindernis für disruptive Bottom-up-Innovationen: Die Arbeitsteilung. Die funktionale Differenzierung von Organisationen führt dazu, dass sich lokale Rationalitäten ausbilden – die einzelnen Fachbereiche entwickeln eigene Sprachen, Codes, Deutungsmuster und Sichtweisen auf die Welt, durch die sie unterschiedlich bewerten, was als sinnvoll und logisch gilt. Organisationseinheiten haben also immer einen Tunnelblick. Für große Veränderungen ist aber häufig gerade ein übergreifender Blick entscheidend, da sie sich auf komplexe Probleme beziehen, die viele verschiedene Fachbereiche betreffen. Im Extremfall kann es dazu kommen, dass eine Situation aus der Perspektive jedes einzelnen Fachbereichs als nicht veränderungsbedürftig erscheint, sondern nur in der Gesamtsicht. Auch hier ist es die Hierarchie, die über eine Bündelung der einzelnen, lokalen Wahrnehmungen eine Makroperspektive schaffen kann. Dass dies in der Realität nicht immer gelingt, steht auf einem anderen Blatt – aber die Unternehmensspitze ist die einzige Stelle in der Organisation, die ein in der Rolle angelegtes Interesse daran hat, einen unternehmensweiten Blickwinkel einzunehmen. Und: Die dies legitim tun darf, ohne sich potentiell den Vorwurf einzuhandeln, in den Hoheitsbereich anderer Akteure einzugreifen.

Man sieht also, dass die Frage nach der Rolle der Hierarchie bei Innovationen differenzierter zu betrachten ist, als nur „Hierarchie verhindert Innovation“ zu rufen. Gleichzeitig ist dieser Text natürlich kein Aufruf dazu, Organisationen im autokratischen Stil durchzustrukturieren. Ein zu hohes Gewicht auf streng durchgesetzter formaler Hierarchie würde dazu führen, dass die Organisation nicht mehr beweglich genug ist, um Herausforderungen in der Umwelt angemessen begegnen zu können. Der Versuch, zweckrational von oben nach unten zu steuern, wäre hochgradig dysfunktional und würde folglich am informalen Immunsystem der Organisation scheitern. Die Utopie, dass jede notwendige Veränderung rein bottom-up aus der Fläche entstehen kann, muss jedoch genauso kritisch hinterfragt werden.

Interessante Literatur zum Thema:

  • Kruse, Peter. 2004. Next practice - erfolgreiches Management von Instabilität: Veränderung durch Vernetzung. 9. Auflage 2020. Offenbach: GABAL.
  • Mintzberg, Henry. 2009. Managing. San Francisco: Berrett-Koehler Publishers.
  • Richter, Katrin-Susanne, und Frank Ibold. 2007. Organisationssoziologie und Change Management — Die Bedeutung von lokalen Rationalitäten, Machtspielen und Kontingenz. In Nachhaltiges Change Management, Hrsg. Fritz Keupler und Heinz Groten, 231–249. Wiesbaden: Gabler.
  • Simon, Fritz B. 2019. Gemeinsam sind wir blöd!? Die Intelligenz von Unternehmen, Managern und Märkten. Fünfte Auflage. Heidelberg: Carl-Auer.

Theo Zichel

Berater, Coach, Trainer & Doktorand in Leadership | Klinischer & Wirtschaftspsychologe (M.A./M.Sc.) | Systems-Psychodynamics

2 Jahre

Niklas Villwock Ich würde eher sagen, dass es Führung/Management immer braucht. Führung braucht sowohl eine hochgradig hierarchische Organisation, wie auch das selbstorganisierte Unternehmen in Gemeinschafteigentum. Hierarchie würde ich jedoch nicht mit Führung gleichsetzen. Hierarchie beschreibt eine Struktur. Führung beschreibt eine Funktion. Hierarchie meint in dem gängigen Verständnis und auch so wie ich es sehe, dass es strukturelle Ebenen gibt mit mehr Entscheidungsmacht und je nach Größe auch hierbei nochmal eine Verteilung der Entscheidungsmacht auf Partikularinteressen. Das braucht nicht jede Organisation. Jedoch muss sich jede Organisation fragen, wie sie Entscheidungsmacht zuweist und nutzt. Entweder wird diese an Hierarchie gekoppelt, an Positionen oder z.B. auch an Rollen, möglicherweise je nach Projekt wechselnd oder sogar kollektiv-geteilte Entscheidungsmacht im Sinne von Konsentverfahren. Dafür benötigt es dann natürlich gute und für alle verbindliche Prozesse, damit keine endlosen Konsensdiskussionen oder Profilierungsmöglichkeiten der Einzelnen entstehen.

Christine Neumann

Founder VISION SESSION | Autorin „Visionsarbeit mit Teams und Organisationen - Das Praxisbuch für eine zukunftsfähige Team- und Organisationsentwicklung" | Host des Podcast „Die Vision führt uns an!"

2 Jahre

Mich macht das gerade nachdenklich. In der New Work Bubble (und Literatur) wird doch ausdrücklich von "natürlichen Hierarchien" gesprochen (siehe beispielsweise Joana Breidenbach in "New Work needs Inner Work", Frederic Laloux in "Reinventing Organizations" und Co.). Gemeint ist damit allerdings eine Hierarchie, die aufgrund von Expertise entsteht - und dementsprechend auch unabhängig der Position genutzt wird.

Bastian Matz

Air Force Officer | SecInnovator | Skydiver Der LeaderMacher - Master Coach Co-Founder WERK 7.62 - Skill Manufaktur

2 Jahre

Mir half mal eine gute Visualisierung zu Ambidextrie... Organisationale Ambidextrie, auch Ambidexterität, ist die Fähigkeit von Organisationen, gleichzeitig effizient und flexibel zu sein. Der Wortursprung bezeichnet Beidhändigkeit und verweist darauf, dass sowohl Exploitation als auch Exploration wichtig sei....Wikipedia Mehr ist leicht über Google zu finden

Jörg Mülling

Gute Chefs essen zuletzt🍴| Simon Sinek #StandWithUkraine 🇺🇦

2 Jahre

Hierarchie ist Dienst nach Anweisung und Kontrolle. Das hat in der alten Taylor-geprägten Welt der Massenproduktion gut funktioniert. Das ist heute und erst recht morgen anders. Wir benötigen kreative und hochmotivierte Menschen, die sich in einer vernetzten Welt bestmöglich austauschen und damit zu bestmöglichen Ergebnissen kommen. Freiwilligkeit ist dabei unabdingbar. Hierbei können und müssen Unternehmen eine Rolle spielen. Eine unterstützende. Sie können z.B. Rahmen der Zusammenarbeit vorgeben (moderieren), Infrastrukturen bereitstellen oder die Finanzierung gewährleisten. Die Nutznießer der Innovationen von morgen werden so auch nicht nur einige werden, sondern viele Menschen. #openinnovation

Robin Oppenhäuser

Business Director specializing in Brand Development, Brand Experience and Operations Management

2 Jahre

Vielen Dank Niklas Villwock für das Teilen und die Gedanken. Für mich stellt sich nicht die Frage, Hirarchie oder keine Hirarchie. Es muss doch immer eine Case by Case Entscheidung sein, wie stark diese ausgelebt wird. Abhängig von den individuellen Persönlichkeiten im Team. Vor allem muss aber, glaube ich, der Zeitpunkt richtig gewählt werden. Gelebte Hirarchie im falschen Moment kann 💯 Innovation zerstören, aber eben auch dafür sorgen, dass Innovationen entstehen, weil wichtige Denkanstöße gesetzt werden oder sich einfach mal mehr Mühe geben. Das braucht aber definitiv nicht jeder Mitarbeiter und jedes Unternehmen im gleichen Maß. Danke noch mal 😉

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