Renovation vor Innovation

Renovation vor Innovation

Der Druck zur Digitalisierung der Schweizer Verwaltung ist immens und der Ruf nach Innovation wird lauter. Doch während Begriffe wie KI und GovTech die Schlagzeilen dominieren, liegt der Schlüssel zu echter, nachhaltiger Wirkung woanders: in der oft vernachlässigten, aber fundamentalen Renovation der bestehenden Prozesse. Dies bedeutet nicht, Innovation zu vernachlässigen – sie ist auch für die Verwaltung essenziell.

Es bedeutet aber, den grössten Teil der Anstrengungen auf die Sanierung des Fundaments zu konzentrieren, bevor man sich von schillernden Schlagworten blenden lässt. Dieser Leitfaden zeigt vier strategische Handlungsfelder auf, die eine solche nachhaltige Transformation ermöglichen und die stabile Basis für zukünftige Innovationen schaffen.

Radikale Vereinfachung vor der Automatisierung

Der verlockendste Fehler bei der Modernisierung ist, bestehende, komplexe Prozesse direkt in digitale Lösungen zu überführen. Das Ergebnis ist meist eine teure, unflexible und fehleranfällige Automatisierung von Komplexität. Erfolgreiche Verwaltungen kehren dieses Prinzip um: Sie eliminieren, vereinfachen und standardisieren radikal, bevor sie eine einzige Zeile Code schreiben. So kritisiert auch der deutsche Normenkontrollrat regelmässig, dass die reine Digitalisierung bestehender Bürokratie keine echten Entlastungen schafft. Jeder nicht benötigte Prozessschritt, jedes überflüssige Formularfeld und jede unklare Regel, die entfernt wird, ist ein direkter Gewinn an Effizienz und Nutzerfreundlichkeit.

Wenn man einen schlechten Prozess digitalisiert, erhält man einen schlechten digitalen Prozess. Quelle: Internet et. al.

Bemerkenswerterweise sollte die "Zweckmässigkeit im Vollzug" bei neuen Rechtsetzungsvorhaben gemäss der Richtlinien des Bundesrates für die Regulierungsfolgenabschätzung bei Rechtsetzungsvorhaben des Bundes. Dabei soll explizit geprüft werden, ob "einfach, einheitliche und kurze Formulare" verwendet werden können. Halleluja!

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Quelle: Seco

Klare Verantwortlichkeiten

Die grössten Reibungsverluste in der Verwaltung entstehen an den Schnittstellen zwischen verschiedenen Organisationseinheiten oder föderalen Ebenen. Hier werden Zuständigkeiten unklar, was zu Doppelspurigkeiten und mangelnder Wirkung führt. Die Lösung liegt in der Etablierung von durchgehender Verantwortung.

Die Föderalismus-Falle: Wenn niemand für die ganze Dienstleistung verantwortlich ist

Die Eidgenössische Finanzkontrolle (EFK) hat in einer umfassenden Analyse nachgewiesen, dass unklare Zuständigkeiten zwischen Bund und Kantonen systematisch zu Ineffizienz führen. Auch die Wirkungsberichte zur Neugestaltung des Finanzausgleichs (NFA) zeigen wiederholt auf, wie schwierig die Koordination in geteilten Aufgabenbereichen ist. Wenn eine Leistung aus Bürgersicht – beispielsweise eine Baubewilligung oder eine Sozialleistung – mehrere Ämter durchläuft, fühlt sich oft niemand für das Gesamterlebnis verantwortlich. Das Resultat sind lange Wartezeiten, Medienbrüche und Frustration auf allen Seiten. Das Spiel lässt sich im ganzen föderalen Leiterli-Spiel durchspielen.

Was ein "Service Owner" in der Verwaltung bewirkt

Hier setzt das Konzept des Service Owners oder Product Managers an. Diese Rolle trägt die Verantwortung für eine Verwaltungsleistung von Anfang bis Ende (End-to-End), unabhängig von internen Silos. Sie agiert als Anwältin des Nutzers, priorisiert Verbesserungen datengestützt und stellt sicher, dass die Leistung die beabsichtigte Wirkung erzielt. Sie steuert nicht nur ein IT-Projekt, sondern managt den Service als kontinuierliches Produkt, wie es im DDaT Capability Framework der britischen Regierung definiert ist.

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Quelle: Gov.uk

Strategischer Kompetenzaufbau

Die wirksamste Verwaltung der Zukunft zeichnet sich nicht dadurch aus, dass sie alles an externe Firmen vergibt, sondern dadurch, dass sie die strategisch entscheidenden Fähigkeiten im eigenen Haus besitzt. Das "Gehirn" der Organisation muss intern bleiben, um die digitale Souveränität zu sichern, wie sie im Strategieplan von Digitale Verwaltung Schweiz 2024–2027 als Ziel verankert ist.

Die nicht-outsourcbaren Fähigkeiten: Produktmanagement & Service Design

Kompetenzen wie Service Design (das tiefe Verständnis von Nutzerbedürfnissen und die Gestaltung von Dienstleistungsprozessen) und Produktmanagement (die strategische Steuerung und Weiterentwicklung von Leistungen) sind Kernaufgaben. In Deutschland baut der DigitalService des Bundes gezielt Teams mit solchen Produktmanagern auf, um nutzerzentrierte digitale Services für die Bundesverwaltung zu entwickeln. In Dänemark werden Leistungen über das zentrale Bürgerportal borger.dk ebenfalls als ganzheitliche Produkte mit klarer ministerieller Verantwortung verstanden. Auch in der Schweiz werden erfolgreiche Plattformen wie EasyGov.swiss vom SECO nach einer solchen Logik als kontinuierliches Produkt für Unternehmen gemanagt und weiterentwickelt, anstatt als abgeschlossenes IT-Projekt.

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Quelle: Digitalserives.bund

Ermöglichen und Lernen

Keine strukturelle Veränderung kann ohne die Menschen gelingen, die sie tragen. Eine nachhaltige Renovation erfordert eine Kultur, die Veränderungen nicht als Bedrohung, sondern als Chance begreift. Dies bedingt psychologische Sicherheit – die Gewissheit, dass das Hinterfragen von Bestehendem und das Ausprobieren von Neuem erwünscht ist, auch wenn nicht jeder Versuch sofort zum Erfolg führt. Dafür benötigt es jedoch Vertrauen, delegierte Führung und eine konstruktive Fehlerkultur.

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Quelle: admin.ch

Die Zeit ist Jetzt

Der Weg zu einer bürgernahen und effizienten digitalen Verwaltung führt nicht über technologische Abkürzungen. Er erfordert die disziplinierte und oft anspruchsvolle Arbeit am organisatorischen Fundament. Indem wir Prozesse vereinfachen, Verantwortlichkeiten entflechten, strategische Kompetenzen aufbauen und eine Kultur des Lernens fördern, schaffen wir die Voraussetzung für den sinnvollen Einsatz von Technologie. Diese Renovation ist kein Selbstzweck – sie ist die Grundlage für eine Verwaltung, die auch in Zukunft ihre Wirkung für Gesellschaft und Wirtschaft voll entfalten kann.


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#digitaleVerwaltung

Thomas Marko

Aus Einzelteilen ein funktionierendes Ganzes

2 Wochen

Ich würde noch gern die Rolle und Notwendigkeit der Vereinfachung betonen. Die Tendenz zum Wuchern von Regeln, fehlenden Putz/Aufräumen ist im Alltag überall da und schädlich. Wollen wir unsere Ornungssysteme nicht zu hinderlichen Geschwüren metastasieren lassen, sondern flexibel, anpassungsfähig, passend behalten, muss die Vereinfachung ernste, wirtschaftlich gestützte, verordnete Pflicht sein.

Diobe Wyss

Kluge Menschen machen nicht alle Fehler selbst. Sie geben auch anderen eine Chance.

2 Wochen

Paul Meyrat Danke für die positive Erwähnung von EasyGov.swiss. Wir hoffen sehr, dass uns die Einführung der E-ID (sofern das Gesetz an der Volksabstimmung vom 28.09.25 angenommen wird) künftig medienbruchfreie und kundenfreundlichere Prozesse ermöglichen wird. Übrigens: Ab 2027 wird EasyGov rundum erneuert und das Angebot ausgebaut. Neben einer zeitgemässen IT-Architektur wird das Portal ein Redesign erhalten und die User Experience soll markant verbessert werden.

Helga Regina Horisberger

Head of Sector Legal Affairs @ Swissmedic |

3 Wochen

Ich bin absolut mit Dir einverstanden, lieber Paul Meyrat. Du sprichst ein gerade in Verwaltungen weit verbreitetes Problem an. Die Erfahrung zeigt, dass leider die Fraktion der Verhinderer gross und laut ist. Auch offensichtlich ineffiziente Prozesse werden nicht systematisch und mit Nachdruck hinterfragt. Damit wird die Ineffizienz einfach digitalisiert. Dessen nicht genug: Heerscharen von externen Beratern sorgen dafür, dass Organisationen beinahe „entmündigt“ werden und das Know-How eben gerade nicht dort angesiedelt ist, wo dies sein müsste. Dies wiederum führt neben hohen Fokgekosten zu Frustration und letztlich auch dazu, dass innovativ denkende Mitarbeitende sich eine neue Herausforderung suchen und ein Umfeld, in welchem die Eigenschaft, Prozesse neu denken zu können auch geschätzt wird,

Vielen Dank, Paul Meyrat , für diesen input, der mal wieder den "Finger in die Wunde" der Thematik Digitalisierung und Verwaltung legt. Ich sehe einen wesentlichen Punkt in dem angesprochenen, ich nenne es mal " durchgängigen Rollenverantwortung für eine Leistung" mit zum Beispiel der Rolle eines Service Owners. Die Verwaltung erbringt Leistungen bisher noch mehrheitlich mittels ihrer linearen, hierarchischen Organisationsstrukturen. Die Bereiche der digitalen Transformation erfordern nun Rollenmodelle, die die Verantwortung und Kompetenzen in der jeweiligen Rolle verorten, und nicht in der hierarchischen Linienposition. Bei einer end2end Orientierung müsste die Rolle auch noch Departement- oder zumindest OE übergreifend wirksam sein können- eine grosse Herausforderung für die bestehenden Strukturen! Eine Rollenmodell Struktur rüttelt und irritiert das Verwaltungsstruktur-System gewaltig, Funktionen und Profilen müssen neu gedacht oder übersetzt werden, verbundene Macht-und Statusnormalitäten werden in Frage gestellt, bzw. überhaupt erst einmal sichtbar und vieles mehr. Die Transformation von Verwaltungsstrukturen ist notwendig und gleichzeitig vielleicht eine der grössten Herausforderungen.

Marcel Schweri

Familienforscher & Erzähler (leidenschaft) | Barista - Volontär (quartier und kirche) | Projektleiter E-Business & Bau (selbstständig) | Liegenschaftenverwalter (job) |

3 Wochen

Wir sprechen aber schon von öffentlichen Verwaltungen? Bei den allermeisten Verwaltungen ist es nicht die Verwaltung welche über die Renovation der bestehenden Prozesse bestimmt, sondern gewählte Personen, welche der Verwaltung vorgeben welche Prozesse wie zu funktionieren haben.

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