Die "Patient Journey" oder: Wie man lernte, das Wartezimmer zu dekorieren"
Von Diagnosen, Enttäuschungen und der ewigen Schleife
Ich bin kein gutes Beispiel für das, was gleich kommt. Ich wurde kurz nach meiner Geburt diagnostiziert. Welch ein Privileg. Kein langes Rätselraten, keine jahrelange Odyssee durch Arztpraxen, keine Selbstzweifel, keine absurden Alternativdiagnosen wie „psychosomatisch“ oder „vielleicht Stress“. Ich hatte einen Namen für mein Leiden, bevor ich sprechen konnte. Ich musste ihn mir nicht selbst erkämpfen.
Aber das macht mich nicht blind für das, was andere erleben. Im Gegenteil. Es macht mich hellhörig. Ich lese, höre, sehe täglich Geschichten, die so absurd klingen, dass Kafka dagegen wie ein pragmatischer Sachbearbeiter wirkt. Besonders absurd wird es dann, wenn der Betroffene eine seltene Erkrankung hat. Und männlich ist. Und Mitte vierzig. Denn dann beginnt die sogenannte Patient Journey in einer Kombination aus „Sie sehen aber noch gut aus“ und „Das wird wohl das Alter sein“.
Der Mann, den ich beschreibe, ist fiktiv. Aber er ist auch real. Ich nenne ihn Thomas. Thomas, 45 Jahre alt, Angestellter, Familienvater. Sportlich war er mal. Jetzt ist er müde. Immer. Und seine Gelenke tun weh. Und manchmal bekommt er keine Luft. Das Herz klopft. Der Magen spinnt. Der Kopf brummt. Seine Lunge pfeift bei Anstrengung. Und seine Frau sagt: „Geh doch mal zum Arzt.“
Was Thomas noch nicht weiß: Er hat Alpha-1-Antitrypsinmangel. Eine seltene genetische Erkrankung, bei der ein bestimmtes Eiweiß fehlt oder defekt ist – jenes, das die Lunge vor Entzündung schützt. Ohne dieses Schutzschild zerstört der eigene Körper Stück für Stück das eigene Lungengewebe. Still, schleichend, irreversibel.
Aber weil Alpha-1 eben so selten ist – oder besser gesagt: so selten erkannt wird – beginnt Thomas' Weg in eine gesundheitliche Sackgasse mit Umleitung über jede gängige Fehldiagnose.
Kapitel 1: Der Check-In in die Warteschleife des Vertrauens
Thomas ruft morgens um acht Uhr bei seiner Hausarztpraxis an. Die Ansage ist freundlich. Und kategorisch: „Sie rufen außerhalb unserer Sprechzeiten an. Bitte versuchen Sie es morgen wieder.“
Er ruft um acht Uhr zwei erneut an. Jetzt ist die Leitung besetzt. Um acht Uhr fünf ist er endlich durch. „Tut mir leid, heute ist nichts mehr frei. Sie können nächsten Dienstag kommen. Um 10:15 Uhr.“
Er nimmt sich frei. Natürlich nimmt er sich frei. Gesundheit ist wichtig. Arbeit kann warten. Nur dass seine Arbeit nicht immer auf ihn wartet. Sein Chef hat dafür wenig Verständnis. Und so beginnt Thomas’ erste Erkenntnis: Krankheit wird in Deutschland nur dann anerkannt, wenn sie planbar ist. Und in die Dienstplanung passt.
Kapitel 2: Das Wartezimmer als biografisches Sammelbecken
Im Wartezimmer sitzt Thomas zwischen Menschen, die husten, stöhnen, nicken, schweigen, lesen, warten. Das Wartezimmer ist nicht nur ein Ort, es ist ein Aggregatzustand. Zwischen Hoffnung und Müdigkeit. Zwischen Routine und Resignation.
An der Wand hängt ein Bild mit Sonnenblumen. Darunter steht: „Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.“ Er fragt sich, ob der Mensch, der das aufgehängt hat, sich je in diesem Raum auf einen Plastikstuhl gesetzt hat.
Er wartet eine Stunde. Dann kommt sein Name. Der Arzt begrüßt ihn mit dem Blick auf den Bildschirm. „Was führt Sie zu mir?“ Thomas erklärt. Müdigkeit, Luftnot bei Anstrengung, häufiger Infekt. Der Arzt nickt. Tastet. Hört ab. Schaut nicht auf ihn. „Das ist wahrscheinlich eine Bronchitis. Vielleicht auch allergisches Asthma. Wir beobachten das mal.“
Er erhält Salbutamol. Und den Rat, sich zu schonen. Und einen neuen Termin in sechs Wochen. Für „weitere Abklärung“.
Kapitel 3: Die Eskalationsstufe Facharzt – Willkommen im Nirgendwo
Der Hausarzt ist ratlos. Zumindest so weit, dass er überweist. Internist. Lungenfacharzt. Rheumatologe. Neurologe. „Zur Sicherheit.“
Thomas beginnt Termine zu machen. Er ruft an, schreibt Mails, wird weitergeleitet. Viele Praxen nehmen keine neuen Patientinnen und Patienten mehr. Einige melden sich nie zurück. Andere bieten Termine in vier Monaten an.
Die Symptome ähneln zu sehr dem, was man „eh ständig“ sieht. Die Atemnot? Asthma. Die Infekte? Raucherlunge (auch wenn Thomas nie geraucht hat). Die Müdigkeit? Burnout. Die Gelenkschmerzen? Alterserscheinung. Jeder sieht ein Stück – keiner das Ganze.
Alpha-1 kommt niemandem in den Sinn. Warum auch? Es steht nicht auf der Checkliste. Und es wird nur dann entdeckt, wenn man aktiv danach sucht. Was man nur tut, wenn man es überhaupt in Betracht zieht.
Bei der Neurologin heißt es: „Sie sollten vielleicht mal mit einem Psychologen sprechen.“ Beim Rheumatologen: „Könnte alles Mögliche sein. Wir beobachten das mal.“ Und beim Lungenfacharzt: „Sie rauchen nicht? Hm. Dann weiß ich auch nicht.“
Kapitel 4: Der große Bluff der Digitalisierung
Jetzt kommt die große Hoffnung: Digitalisierung. Zumindest auf dem Papier. Denn praktisch ist sie eher eine Mischung aus Wunschdenken, IT-Desaster und kafkaesker Selbstverwaltung.
Thomas lädt sich die elektronische Patientenakte herunter. Er identifiziert sich per eID, Videochat, TAN und einem mittelalterlichen Zauberritual. Als er nach vier Tagen endlich Zugriff hat, stellt er fest: Nichts drin. Kein Laborwert. Kein Befund. Keine Notiz. Digital, aber leer.
Auch sonst ist Digitalisierung eher eine theoretische Hoffnung. Die Arztpraxis faxte neulich noch. Und die E-Mail-Adresse des Facharztes endet auf „t-online.de“.
Thomas probiert Apps. Eine erinnert ihn daran, Wasser zu trinken. Eine andere sagt ihm, er solle sich bewegen. Eine Dritte fragt jeden Tag, wie es ihm geht, und speichert das in einer hübschen Grafik. Nur helfen tut das alles nicht. Weil keine dieser Anwendungen wirklich mit seiner Versorgung verknüpft ist.
Digitale Hilfen sind in Deutschland wie das WLAN im ICE: Man hat davon gehört, aber verlassen sollte man sich besser nicht darauf.
Kapitel 5: Die Diagnose, irgendwann – und dann?
Nach sieben Jahren. Sieben Jahren voller Ratlosigkeit, Therapieversuche, Zweitmeinungen, Missverständnisse, Fehldiagnosen, gut gemeinter Tipps und digitaler Ratlosigkeit. Nach sieben Jahren und mindestens ebenso vielen Fachärzten fällt das Wort. In einer Uniklinik. Im Rahmen eines Forschungsprojekts.
Ein junger Assistenzarzt, frisch aus dem Studium, stellt eine einfache Frage: „Haben Sie jemals Alpha-1 testen lassen?“
Thomas weiß nicht, was das ist. Der Hausarzt weiß es auch nicht. Aber der Test wird gemacht. Ergebnis: schwerer Alpha-1-Antitrypsinmangel. Ein Gendefekt. Eine seltene Erkrankung, die aber behandelbar wäre – wenn man es früher wüsste.
Thomas ist schockiert. Wütend. Erleichtert. Alles zugleich. Aber vor allem: zu spät dran. Seine Lunge ist bereits geschädigt. Seine Belastbarkeit eingeschränkt. Sein Vertrauen ins System: zerstört.
Kapitel 6: Primärversorgung – die Idee war gut, das System war schwach
Thomas erfährt, dass es in Deutschland ein Primärarztsystem gibt. Die Idee: Der Hausarzt koordiniert, begleitet, erkennt frühzeitig, bleibt dran. In der Realität: Der Hausarzt sieht Thomas zweimal im Jahr. Fünfzehn Minuten.
Dazwischen liegt ein Leben. Mit Symptomen. Krisen. Medikamentenfragen. Arbeitsunfähigkeit. Partnerschaftskonflikten. Schlaflosigkeit. Aber der Hausarzt hat keine Zeit. Und keine Ressourcen. Und oft auch keine Ahnung von seltenen Erkrankungen.
Also fragt Thomas Google. Und Foren. Und Facebook-Gruppen. Und manchmal auch seine Frau. Die inzwischen mehr weiß als mancher Mediziner.
Kapitel 7: Die glitzernde Welt der Gesundheitswirtschaft
Während Thomas kämpft, werden Konferenzen veranstaltet. Panels. Innovationsfondsprojekte. Healthtech-Pitches. Dort spricht man über Patienten als Nutzer. Als Datenquelle. Als Zielgruppe.
Dort ist Thomas eine Silhouette in einer PowerPoint. Mit einem lächelnden Gesicht und der Aufschrift: „Patient Engagement“. Er selbst sitzt derweil in einem Wartezimmer. Mit einem schlecht desinfizierten Kugelschreiber und einem Anamnesebogen, auf dem gefragt wird, ob er in den letzten fünf Jahren im Ausland war. Die Realität ist weniger glänzend.
Kapitel 8: Therapie. Oder: Du darfst kämpfen. Für alles. Immer wieder.
Es gibt eine Therapie. Ja. Für Alpha-1 gibt es sogar eine spezifische Therapie – die sogenannte Replacement-Therapie. Sie ersetzt das fehlende Protein und kann das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen. Klingt gut, oder?
Aber: Sie ist teuer. Sie ist aufwendig. Und sie ist genehmigungspflichtig. Und Thomas, der gerade erst seine Diagnose verarbeitet, darf jetzt die nächste Runde eröffnen – diesmal gegen Krankenkassen, medizinische Dienste und bürokratische Hürden.
Er muss Anträge stellen. Widersprüche schreiben. Befunde nachreichen. Und das alles immer unter Zeitdruck. Denn je länger nichts passiert, desto schlechter geht es ihm.
Und das ist es, was wirklich krank macht: Nicht nur die Erkrankung selbst. Sondern die permanente Notwendigkeit, sie zu beweisen. Immer wieder. Bei jedem neuen Formular. Bei jeder neuen Ärztin. Bei jeder neuen Institution.
Thomas ist müde. Nicht nur körperlich. Sondern seelisch. Müde vom Erklären. Müde vom Kämpfen. Müde davon, sich rechtfertigen zu müssen für etwas, das er sich nie ausgesucht hat.
Er hat nicht gebucht. Kein Ticket. Keine Reise. Kein Abenteuer. Nur eine Diagnose, die alles verändert hat – und ein System, das ihn dafür täglich prüfen will, ob er auch wirklich krank genug ist.
Kapitel 9: Zuhören. Das Revolutionärste, was man tun kann
Was Thomas will, ist nicht viel. Er will gehört werden. Gesehen. Verstanden. Nicht alle Antworten. Aber ernsthafte Fragen. Keine Broschüren. Sondern echte Gespräche.
Zuhören ist das Gegenteil von Abfertigung. Es ist ein Akt des Respekts. Und der Beginn jeder guten Versorgung. Doch in der Versorgungsrealität ist Zuhören ein Luxus.
Kapitel 10: Was wäre wenn...
Was wäre, wenn...
Die Reise, die keine war
Thomas ist nicht am Ziel. Es gibt kein Ziel. Es gibt den nächsten Termin. Den nächsten Antrag. Die nächste Erschöpfung. Die nächste Hoffnung. Vielleicht.
Nennen wir es nicht Journey. Nennen wir es, was es ist: Ein täglicher Kraftakt. Ein mühsamer Weg durch bürokratische Hürden, systemische Ignoranz und digitale Nebelwände.
Und wenn wir ehrlich sind: Es ist keine Reise, sondern ein Kampf. Gegen die Krankheit. Gegen die Zeit. Gegen das Gefühl, vergessen worden zu sein.
Also hört bitte auf, es "Patient Journey" zu nennen.
Nennt es beim Namen.
Realität. Und zwar eine, die endlich gesehen werden muss.
Freie Fachärztin--
3 MonateHab mal in einer Lungenklinik gearbeitet. Alpha-1-AT-Mangel gehörte damals zum Standard für „kommt zum ersten Mal, Luftnot und Rö-Bild Veränderungen.“ Ein „bösartige“ Sozialdienstmitarbeiterin („kein Problem, setz ich durch, wollen wir doch mal sehen!“) hat für diese Pat. alles Mögliche erreicht. Alles lange her. Heute besteht ja mehr die Vorstellung online der KI was vorzuhusten bei beruhigender Musik. Dem Zynismus sind wirklich keine Grenzen gesetzt. Ein Mann, dessen Mutter in den 70gern Contergan verordnet bekam, wird auch regelmäßig befragt, ob er wirklich noch so viel Unterstützung/Geld braucht. Er soll doch mal beschreiben, was alles nicht geht bzw. schon wieder funktioniert. Er antwortet miittels Textbaustein: Stand gestern vor einem Spiegel. Sind immer noch keine Arme und Beine gewachsen. Habe probiert ohne Arme nach dem Schei..en den Ar… abzuwischen. Ging nicht, brauch weiterhin Hilfe.“ Drastische Dummheit braucht drastische Formulierung.
Accessibilitymanagerin in Verbund und Gründerin von Atempla - Accessibilityberatung
3 MonateUnd jetzt stell dir vor, du bist eine Frau mit Kopftuch oder Migrationshintergrund. Sehr gut geschrieben! Und ist eine wirklich realistische Beschreibung des Normalzustands - auch in Ö!
Brückenbauerin zwischen Pharma, Versicherungen, Kliniken & Start-ups | Medizin, Bürokratie & Innovation auf einen Nenner bringen? Kann ich! | Strategie, digitale Gesundheit & Psychologie
3 MonateEs ist so ermüdend mit einer schweren Krankheit auch noch um die Versorgung kämpfen zu müssen. Das kann sich ein gesunder Mensch gar nicht vorstellen. Als ob so ne Krankheit nicht schon genug hustle mit sich bringt 🥲
Die mit den Zahlen tanzt 💃 Demokratin mit Herz & Haltung | Naturverbunden & Klimawandelüberzeugte
3 MonateDanke Frank Hennemann und Thomas für die Offenheit. Wie gut ich das kenne, noch habe ich keine Diagnose, aber ich bleibe dran... Kennt jemand jemanden der über den Tellerrand guckt im Großraum Hamburg? Ich wäre so dankbar 🙏🏻🫶🏻
The world needs anthropologists! - anthropologist, researcher, educator, ux design and evaluation
3 MonateWow. Danke für die Perspektive. Vorschlag für anderen Begriff. Erkrankungsgeschichte nennen wir das in der Anthropologie. Als Medizinanthropologin im Gesundheitswesen kann ich das nur unterstreichen. Personen mit Endometriose erleben bis zu 10 Jahre und mehr bis zur Disgnose und selbst dann gibt es nicht immer Hilfe.