„I am the consultant, and I don´t know what to do!“
Humble Consulting: Die Kunst des vorurteilslosen Beratens
Mehr als die Hälfte aller Change-Projekte scheitern. Dabei sind Top-Beratungsunternehmen am Werk, die viele Tage und Jahre bei ihren Kunden verbringen. Wie kann das sein? Aus meiner Beratertätigkeit weiß ich, wie tief wir in uns selbst und im Gespräch mit dem Kunden gehen müssen. Denn die Crux des Change-Erfolgs liegt in der Regel nicht im Offensichtlichen, sondern im dahinter Verborgenen.
So war ich sehr erfreut, als ich auf Ed Scheins jüngstes Buch stieß (Humble Consulting – Die Kunst des vorurteilslosen Beratens) und darin las, was mich schon lange umtreibt. Schein war langjähriger MIT-Professor und ist weltweiter Experte für Leadership und Organisationskultur. Seine Kernaussage: Erfolgreiche Consultants benötigen in der heutigen Zeit eine völlig andere Haltung: „I am the consultant, and I don´t know what to do.“ Damit liefert er einen essenziellen Beitrag zur kritischen Reflexion und Weiterentwicklung unserer aktuellen Beratungspraxis.
Wie aber gelangen wir zu der neuen Haltung? Was benötigen wir als Berater? Was brauchen Change-Projekte in Zeiten der Digitalisierung – überschrieben mit dem großen Begriff „Transformation“ – wirklich?
Change-Beratung in Change
Die Digitale Transformation ist für Unternehmen und Organisationen eine riesige Herausforderung, die über kurz oder lang gravierende Veränderungen bei Strategie, Prozessen und Unternehmenskultur erzwingt. Tiefverunsicherte (potenzielle) Kunden suchen nach Antworten. Unternehmensberater liefern Diagnosen, Methoden und Konzepte, immer öfter auch Data Mining, Anwendungen und Applikationen. Also alles in Ordnung in Sachen Beratungspraxis? Wohl kaum.
Zwar haben Unternehmensberatungen nach etlichen Fehlschlägen bei Veränderungsprojekten mittlerweile verstanden, dass die Digitale Transformation ohne die Transformation der Organisationskultur nicht gelingen kann – das Bonmot von Peter Drucker „culture eats strategy for breakfast“ ist in aller Munde –, doch bloße Einsicht führt nicht automatisch zu einer adäquaten Haltungs- und Verhaltensänderung. Laut Ed Schein wäre ein solcher Shift in der Beraterbranche allerdings dringend geboten. Was genau ist gemeint?
Kulturtransformation erfordert Beratungstransformation
Ob nun in Prozessen des Kulturwandels oder bei komplexen Fragestellungen generell – Berater benötigen nach Scheins Erfahrung eine „bescheidene“, vorurteilslose Herangehensweise, damit sie schnell und wirklich hilfreich unterstützen können:
„I am the consultant, and I don´t know what to do!“
Eine solche Haltung einzunehmen dürfte für viele Berater eine große Herausforderung sein, widerspricht sie doch dem aktuellen Erfolgsmodell. Bislang lernten Berater, schnelle Antworten zu liefern und durch Fachkenntnis zu überzeugen. Kunde und Berater begegnen sich mit professioneller Distanz, wobei der Berater gleichsam die Rolle eines Arztes übernimmt, der zunächst eine Diagnose stellt, um dann die passenden Interventionen bzw. Maßnahmen zu empfehlen (und bisweilen auch umzusetzen). Solange die Probleme klar definiert sind, ist diese Form der Beratung sinnvoll.
Bei kulturellen Fragestellungen hingegen, so Ed Schein, funktioniert diese Art der Experten-Beratung nicht. Wenn die Probleme komplexer und chaotischer werden, ist es komplexer und chaotischer zu entschlüsseln, wo das Problem tatsächlich liegt und was genau Anlass zur Sorge gibt. Die Kunden wollen mehr Agilität, mehr Vertrauen, mehr Selbstorganisation.
Aber was genauwird gewollt? Ed Schein warnt davor, bei solchen Fragestellungen zu vereinfachen. Das passiert leicht, weil es ein starkes psychologisches Bedürfnis ist, Sinnbezüge herzustellen. Wir suchen Sicherheit in „root causes“ und ein Gefühl des Fortschritts, indem wir das Problem möglichst schnell identifizieren und daran arbeiten.
Es beruhigt uns, wenn wir zu wissen glauben, was zu tun ist.
Und das lässt uns voreilig sein, obwohl die echten Probleme und Zusammenhänge noch gar nicht gehoben wurden.
Raus aus der geschützten Expertenrolle
Nach Ed Scheins Erfahrung agieren Berater in komplexen Umfeldern wesentlich wirkungsvoller, wenn sie aus der Expertenrolle aussteigen. Da die Expertenrolle stets mit einer professionellen Distanz verbunden ist, fällt es dem Kunden sehr schwer, persönliche Meinungen und Befindlichkeiten im Hinblick auf die Problemstellung zu äußern. Die Folge: Kunde und Berater dringen nicht in die notwendige Tiefe vor.
Der wirkungsvolle Berater, so Ed Schein, sieht seine primäre Aufgabe darin, den Kunden zu befähigen herauszufinden, was ihn wirklich beschäftigt und ihm Sorgen bereitet. Er schafft eine Beziehung, in der so viel Vertrauen – sprich Angstfreiheit und Sicherheit – vorhanden ist, dass der Kunde seine wirklichen Motive und Bedenken offenlegt: Die Person hinter der Rolle wird sichtbar. Das setzt jedoch voraus, dass auch der Berater offenlegt, was er wirklich denkt. Diese Beziehungsqualität ist nicht zu verwechseln mit Freundschaft, denn der Berater hat zwar die Beziehung im Blick, fühlt sich aber in erster Linie der Problemlösung verpflichtet.
Vertrauensvolle Beziehungen sind der Schlüssel
Für eine authentische, vertrauensvolle Beziehung sind schon die ersten Schritte wichtig. Vom ersten Moment an muss der Berater das Gespräch auf eine persönliche Ebene lenken. Egal, ob der Kontakt über Telefon, Email oder ein Treffen entsteht.
Die Einstellung, mit welcher der Berater in den (Erst-)Kontakt geht, ist geprägt von Bescheidenheit angesichts der Komplexität der Probleme:
„Ich bin hier, damit wir gemeinsam eine Lösung finden; um die Probleme des Kunden empathisch anzuerkennen; um mich auf ihn und seine Situation zu konzentrieren. Ich bin nicht hier, um mich selbst, meine Fertigkeiten und meine Fachkenntnisse zu verkaufen. Und ich bin auch nicht hier, um zu diagnostizieren und einen Vertrag mit dem Kunden abzuschließen.“
Diese Haltung der „demütigen Beratung“ ist charakterisiert durch:
- die Selbstverpflichtung zur Unterstützung (commitment to helping),
- Zugewandtheit gegenüber den Kunden (caring for the client) und
- – vor allem – Neugierde (curiosity).
Die Kunst des Fragens – und tieferen Zuhörens
„Humble Consulting“ verlangt neue Fertigkeiten des Zuhörens und in der Art, Fragen zu stellen. Insbesondere das Zuhören ist wichtig, weil es auch Auswirkungen darauf hat, was und wie wir fragen. Ed Schein schreibt konkret, wie dies gelingt. Damit kann in einem gemeinsamen Dialogprozess herausgefunden werden, was den Kunden wirklich umtreibt.
Im Kern geht es für den Berater darum, zugewandt und neugierig zu hören und zu antworten, ohne das Gesagte immer zuerst daraufhin zu prüfen, was es für ihn selbst und seine Situation, den Auftrag etc. bedeutet. Fraglos sind das hohe Anforderungen an die Gesprächsführung.
Kleine sofortige Veränderungen statt großer Analysen
Offene und vertrauensvolle Dialoge sind nach Ed Schein die Katalysatoren für eine Form der Hilfestellung, die in Zeiten der Komplexität und rasanten Veränderungen angebracht ist. Es geht nicht um große Diagnosen und Interventionen, sondern um „adaptive moves“, um kleine Schritte der Veränderung.
Im Gespräch werden machbare „adaptive moves“ identifiziert und dann sofort umgesetzt. Diagnose und Intervention erfolgen also fast zeitgleich. Dadurch wird das Problem in der Regel nicht gelöst, aber es kommt zu Situationen, die als Verbesserungen empfunden werden und Informationen darüber liefern, wie der nächste „adaptive move“ aussehen sollte.
Berater gehen in die Haltung des Coachs
Ed Schein entwirft Grundzüge eines neuen, in der heutigen Zeit besonders wirkungsvollen Consultings. Seine Beschreibungen sind praxisnah, lebendig und lehrreich, gespeist aus 70 Jahren Beratungserfahrung. Reflexionsfragen helfen, die eigene Beratungspraxis an dem neuen Beratungsbild zu spiegeln.
„Humble Consulting“ ist stark von einem Coachingverständnis gefärbt. Ähnlich wie ein Coach zu agieren ist für traditionelle Berater eine anspruchsvolle Aufgabe, heißt es doch, die alte Expertenrolle ablegen zu können, eigene innere Entwicklungsarbeit zu leisten, eine neue Haltung zur eigenen Dienstleistung und zum Kunden zu einzunehmen – und eine neue Souveränität zu erlangen, die nichtauf Wissen und Projekterfahrung beruht.
Wir gehen den Weg, den unsere Kunden gehen. Und zwar zuerst.
Es gilt, viel Neues zu lernen, wahrzunehmen und zu erfahren. Im Grunde gehen wir als Berater den Weg, der auch jetzigen und zukünftigen Führungskräften bevorsteht: Das neue Führen verlangt, Kontrolle und vermeintliche Sicherheit loszulassen und in den Prozess zu vertrauen. Ich weiß, wie weit der Weg vom Erteilen guter Ratschläge bis zum Stellen offener Fragen, auf die ich keine Antwort habe, ist.
Für Ed Schein gehören zu einem wirksamen Berater auch das Verständnis und die Wahrnehmung zwischenmenschlicher Gruppen- und Organisations- bzw. systemischer Prozesse. Für die meisten Berater weitere große Lernfelder.
Sehen Berater die Digitale Transformation in erster Linie als Beschäftigungsprogramm für ihre Branche? Oder wollen sie wirklich ebenso erfolgreich wie nachhaltig „transformieren“ und die Leadership- und Organisationskultur in die Digitalisierung integrieren?
Beratern mit echtem Transformationsanspruch liefert Ed Schein eine Blaupause für schnell wirksames Agieren. Im ersten Schritt müssen sie allerdings entsprechende Mindset- & Capabilities - Entwicklungsprogramme aufsetzen. Denn „Humble Consulting“ stellt sich nicht von selbst ein, es muss trainiert werden.
Zum Autor ...
Dr. Michael Schwalbach
Der Volkswirt, Speaker und Autor ist Yogalehrer, Top-Management-Berater und Executive Coach. 20 Jahre lang arbeitete er in strategischen Unternehmensberatungen, seit 10 Jahren begleitet er Geschäftsführer und Vorstände in Führungsfragen und Veränderungsprozessen. Seine Spezialität: mit seinem Team umfassende Kulturwandelprozesse in Mittelstand und Konzernen tiefgreifend zu begleiten – und Berater für diese neue Art der Beratung fit zu machen. Er ist Gründer und Geschäftsführer der LIFE Advisory GmbH.
Weitere Informationen unter www.leadingcorporatechange.com
Very interesting
🎙Sprecher, Speaker, Brandvoice
7 JahreToll geschrieben und absolut zeitgemäß!
cloud, security, AI, DSGVO
7 JahreIn order to make that happen, procurement of consulting services must be redefined, as well as sales of consulting. What probably is a good idea anyway, but hard to change.